»Belastungstendenzen«

Antikommunisten nutzten Prozeß um gefährliche Körperverletzung zur Generalabrechnung mit Meinungsgegnern. Ein Freispruch, eine Bewährungsstrafe

Der Prozeß um den Angriff auf protestierende Antikommunisten im Umfeld der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2011 ist am Dienstag (26.6.) in Berlin mit einem Freispruch und einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung zu Ende gegangen. Der Angeklagte Matthias H. (23), von dessen Tatbeteiligung das Gericht überzeugt war, erhielt eine auf Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von acht Monaten, die Bewährungszeit wurde auf zwei Jahre festgesetzt. An Nebenkläger Dr. Frieder Weiße soll H. ein Schmerzensgeld von 600 Euro zahlen, sofern das Urteil rechtskräftig wird.

Weiße hatte sich am 8. Januar 2011 an der Protestaktion der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) vor dem Urania-Veranstaltungszentrum beteiligt, weil dort über »Wege zum Kommunismus« diskutiert werden sollte. Von mutmaßlichen Konferenzteilnehmern war Weiße geschlagen und getreten worden. Er hatte aber selbst keinen der Angeklagten als Täter oder Mittäter identifizieren können, nachdem er zu Boden gegangen war und mit einer Augapfelprellung die offensichtlichste Verletzung davontrug. Daß sich die Zeugenaussagen von sechs weiteren VOS-Mitgliedern zum Teil widersprachen, wertete die Staatsanwältin nicht als Indiz für deren Unglaubwürdigkeit. Es zeige vielmehr, daß sie sich nicht abgesprochen hätten.

Die Staatsanwaltschaft hatte für beide Angeklagten einen Schuldspruch und Bewährungsstrafen von elf Monaten bzw. acht Monaten gefordert. Die Verteidiger plädierten auf Freispruch.

Im Fall des Angeklagten Matthias S. (26) folgte der Richter dem Antrag der Verteidigung, da ihm mehrere Zeugenaussagen nicht plausibel erschienen – unter anderem die der ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Vera Lengsfeld, die S. bei einer Lichtbildvorlage nicht erkannt hatte, doch angeblich über ein Jahr später im Gerichtssaal. Im Fall des Angeklagten H. trug Lengsfelds Aussage aber zur Verurteilung bei. »Entweder ist eine Zeugenaussage insgesamt glaubwürdig oder nicht«, kritisierte Rechtsanwalt Sven Richwin nach der Urteilsverkündung gegenüber junge Welt. Ob sein Mandant, der am letzten Verhandlungstag nicht anwesend war, gegen das Urteil Rechtsmittel einlegen will, blieb zunächst offen.

Mehrere Zeugen hatten sich an die auffällige grüne Jacke des jungen Mannes erinnert und ihn in einer Menschenmenge gesehen, zwei von ihnen – Lengsfeld und ihr Mitstreiter Mario Röllig – hatten ihm Schläge oder Tritte zugeordnet. Richwin verwies in seinem Plädoyer auf ein Zeitungsfoto, auf dem sein Mandant zu sehen war. Die Personenbeschreibung mehrerer Zeugen hätte sich auf das markante Kleidungsstück beschränkt.

Richwin und sein Kollege Friedrich Sauerbier, der den Angeklagten S. vertrat, hatten auch eine Gegenüberstellung kurz nach der Tat bemängelt, bei der den Zeugen außer den Beschuldigten keine weiteren Personen zur Auswahl präsentiert worden waren. Die festnehmenden Polizeibeamten hatten den Tatverlauf selbst nicht beobachten können.

Eine »extreme Belastungstendenz« bemerkte Sauerbier in den Reihen der VOS. Lengsfeld hatte kaum eine Gelegenheit ausgelassen, die politische Gesinnung der Angeklagten als moralisch verwerflich darzustellen. »Antifaschismus ohne Antikommunismus ist nicht glaubwürdig«, sagte sie im Plädoyer für die Nebenklage. Es gehe hier nicht nur um eine Schlägerei, sondern um einen »Angriff auf die Meinungsfreiheit«. Als Bewährungsauflage für beide Angeklagten wünschte sie sich »100 Stunden Studium der Verbrechen des Kommunismus«. Ihre Vereinigung könne eine Literaturliste zur Verfügung stellen. Auch »ein Praktikum in einer der Gedenkstätten der SED-Diktatur oder der Sowjetdiktatur« hielt sie für angemessen. Der Richter ließ sich in seinem Urteil gegen Matthias H. jedoch nicht auf die schwarze Pädagogik der Abschreckung ein. Rechtsanwalt Sauerbier hatte erklärt, sein Mandant habe als »emanzipatorischer Geschichtsstudent« wohl schon einige Seminare zur DDR-Geschichte belegt.

Abgeschrieben bei Claudia Wangerin, Tageszeitung junge Welt vom 27.06.2012

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