Ansprache des Vertreters der VVN-BdA bei der Kundgebung des »Tübinger Friedensplenums« zum Antikriegstag 01.09.2009 auf dem Tübinger Holzmarkt
Liebe Friedensfreundinnen,
liebe Friedensfreunde,
(…)
I.
Die Ereignisse ab dem 1. September 1939 sind bekannt. Die Nazis steckten ein paar Leute in polnische Uniformen, um ihren seit langem geplanten und vorbereiteten Angriff auf Polen und ihre Annexion polnischen Gebiets und der damaligen Freien Stadt Danzig mit der Behauptung zu bemänteln, es habe ein Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz stattgefunden und seit 5:45 Uhr werde „zurück geschossen“.
Charlie Chaplin hat den „Großen Diktator“ treffsicher der Lächerlichkeit preisgegeben, aber es war bitterer Ernst: Nachdem Hitlers Außenpolitik und die Aktivitäten seiner deutschsprachigen fünften Kolonnen – von wichtigen europäischen Mächten hingenommen -bereits die staatliche Existenz Österreichs und der Tschechoslowakei ausgelöscht hatten, konnte dieser Gang der Ereignisse niemand verwundern. Die Beistandszusagen Großbritanniens und Frankreichs nützten den Polen nichts. Erst 1940 folgten den Kriegserklärungen, mit denen der Zweite Weltkrieg eingeleitet wurde, auch tatsächliche Kriegshandlungen an den westlichen Fronten.
Die damalige Sowjetunion hat, wie gut dokumentiert ist, alles Erdenkliche versucht, um schon damals eine Anti-Hitler-Koalition zustande zu bringen, die die Nazis und ihre Wehrmacht von diesem Überfall abhalten oder wenigstens ihre Kriegsmacht in Polen hätte stoppen können. Es ist erschütternd, wenn man liest, wie sich im Sommer 1939 Verhandlungsdelegationen Großbritanniens und Frankreichs nach Moskau zu begeben geruhten, die mit langsamen Verkehrsmitteln reisten, keinen Rang und keine Vollmachten besaßen und vor allem das Wichtigste nicht mitbrachten, nämlich einen Plan, wie die Sowjetunion mit Zustimmung Polens diesem Land bei einem Überfall der Nazis in einer abgestimmten Weise militärisch hätte beistehen können. Buchstäblich in letzter Minute wurde dann von der sowjetischen Führung vor dem Zuschnappen der für sie erkennbaren Falle die Notbremse gezogen und am 23. August ein deutsch-sowjetischer Nichtangriffsvertrag unterzeichnet, den die Nazis vorgeschlagen hatten. Mit diesem Überraschungscoup gewann die sowjetische Führung eine Atempause von knapp zwei Jahren bis zum Überfall auf ihr Land am 22. Juni 1941. Aber für ihr Vorgehen zahlte sie einen sehr hohen Preis an Glaubwürdigkeit, und mit ihr die gesamte kommunistische Bewegung, die ja zu jener Zeit noch in einer Internationale mit Sitz in Moskau organisiert war.
Nicht nur das deutsch-polnische Verhältnis – aber vor allem das, und von dem müssen wir heute reden, weil wir vor der eigenen Haustür zu kehren haben – ist von diesen damaligen Vorgängen mit einer schweren Hypothek belastet.
Erst ab dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 war der Charakter des gegen die faschistischen Mächte und ihre Verbündeten gerichteten Weltkriegs wirklich klar.
II.
Wenn im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg von einer Niederlage Deutschlands die Rede ist, dann war nach meinem Verständnis der 1. September 1939 das erste Datum dieser Niederlage. Deutsche Antifaschisten hatten erfolglos versucht, diesen Krieg zu verhindern, auch indem sie das Ausland vor den illegalen Kriegsrüstungen warnten. Einige bezahlten dafür mit dem Leben. Stellvertretend nenne ich die junge Mutter Lilo Herrmann oder von den Arbeitern in den Dornier-Werken in Friedrichshafen den Kommunisten Artur Göritz, zusammen mit Lilo am 20. Juni 1938 hingerichtet, und den sozialdemokratischen Gewerkschafter Fridolin Endraß, 1940 hingerichtet.
Eine Befreiung war der 8. Mai 1945 für alle Opfer des Naziterrors, für die Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager. Auch für diejenigen Deutschen, die ihren Einsatz für das Ende des Naziregimes und die vorzeitige Beendigung des Krieges nicht mit dem Leben hatten bezahlen müssen.
Aber auch für sie markierte auch dieser Tag zugleich eine Niederlage. Was meine ich damit ? Willi Bleicher, der IG Metall-Bezirksleiter der 1960er Jahre, der als politischer Häftling im KZ Buchenwald ein Kind gerettet hatte, hat ein Gespräch mit einem Oberst der US-Armee berichtet, das er 1945 in Stuttgart führte. „Wissen Sie, Herr Bleicher“, habe der zu ihm gesagt, „wir waren in Vaihingen oben in der Nacht. Wir hätten am anderen Tag Stuttgart besetzen können. Wir blieben einen Tag oben in Vaihingen auf der Höhe und dachten, dass also hier in Stuttgart die Bevölkerung aufräumt, Selbstreinigung vollzieht. Herr Bleicher, nicht ein einziger, nicht ein einziger ist also dort irgendwie gefasst oder zur Rede oder zur Verantwortung gezogen worden, nicht ein einziger. Das offenbart doch, nicht, wie dieses deutsche Volk eingestellt ist. Es war keine ideologische Niederlage des Faschismus, sondern das war eine militärische und nur eine militärische.“ „Ich habe über diesen Ausspruch des Amerikaners lange, lange nachgedacht“, sagt Willi Bleicher 28 Jahre später in dem Interview, „ich musste ihm nachträglich absolut Recht geben.“ Das meine ich mit der Niederlage der Antifaschisten.
III
Wichtig für uns heute in Deutschland finde ich, wir dürfen nicht zulassen, dass Ursachen und Wirkungen im Nachhinein vertauscht werden. Die Aggressoren und diejenigen, die sich wehrten und ihnen auf die bestmögliche oder auch weniger schöne Art auswichen, können nicht auf eine Stufe gestellt werden. Nichts von den Zuständen in Vorkriegspolen rechtfertigt in irgendeiner Weise den Nazi-Überfall. Dieses Land hatte Deutschland nicht militärisch bedroht.
Wer die spätere Zerstörung Dresdens, Stuttgarts oder Pforzheims im Bombenkrieg und ihre vielen Opfer beklagt, darf nicht schweigen von der Generalprobe, der Zerstörung Gernikas durch die Nazi-Luftwaffe mit Dornier- und Heinkel-Flugzeugen schon während des spanischen Bürgerkriegs, und von ihren Flügen, um 1940 England zu „coventrieren“, wie sie das großmäulig nannten, als sie die Industriestadt Coventry mitsamt ihrer Kathedrale in Schutt und Asche gelegt hatten.
Wer Ostpreußen, Schlesien und dem Böhmerwald als ehemaligen Siedlungsgebieten deutschsprachiger Menschen nachtrauert und Vertreibungsschicksale seiner Angehörigen beklagt, spricht von den Reaktionen der Opfer eines Angriffskriegs, der im deutschen Namen begangen wurde. Unzumutbar ist auch für uns die Rolle einer Frau Steinbach, 1943 in Polen geboren, deren Eltern mit Hitler in dieses Land kamen und mit Hitler wieder hinausgejagt wurden. Auf solche sogenannten „Vertriebenen“ darf politisch keine Rücksicht mehr genommen werden.
IV.
Die entscheidende Lehre von 1945 war, dass von deutschem Boden nie mehr ein Krieg ausgehen darf. Diesem Tabu, dieser Schamgrenze waren zumindest alle deutschen Regierungen 50 Jahre lang verpflichtet, bis sich im März 1999 die Gerhard Schröder und Joseph Fischer geführte „rot-grüne“ Bundesregierung an dem Überfall gegen das damalige Jugoslawien beteiligte, dem dritten Überfall auf Serbien seit 1914. Das wird ewig ihre Schande und die ihres Kriegsministers Rudolf Scharping bleiben. Wir sind damals gegen diesen Überfall auf die Straße gegangen und das war richtig.
Der 2. Weltkrieg wurde von einer Koalition unterschiedlicher Kräfte gewonnen. Die Regierenden der großen kapitalistischen Mächte der Anti-Hitler-Koalition vertraten eine andere Politik als ihre Vorgänger, die noch 1938 mit dem „Münchner Abkommen“ Hitler die Tschechoslowakei zum Fraß vorgeworfen hatten und sogar meinten, sie hätten damit „den Frieden in unserer Zeit“ gerettet. Danach wurde zeitweilig der Antifaschismus mobilisiert. Politiker wie Churchill und Roosevelt schätzten die Weltlage realistisch ein, aber ihre Kabinette und Armeen bestanden beleibe nicht nur aus Antifaschisten.
Dem 2. Weltkrieg folgte die Bedrohung der Welt mit dem Monopol der USA auf Atomwaffen, das dann mit einem Gleichgewicht des Schreckens (einer schrecklichen Vokabel!) durchbrochen wurde. Dem Weltkrieg folgten noch viele heiße Kriege, für die ich die in Korea und Vietnam nur beispielhaft nenne. Und über Jahrzehnte hatten wir einen kalten Krieg, bei dem zuletzt in unserer unmittelbaren Umgebung, in Mutlangen und Heilbronn, Marschflugkörper stationiert waren. Welche Ziele da als erste getroffen worden wären, wenn Unverantwortliche auf den Knopf gedrückt hätten, das ist klar.
Zeit meines politisch denkenden Lebens war es für mich klar, wir müssen eine Friedensbewegung organisieren und uns dort engagieren. Sie bleibt unverzichtbar. Jede Generation muss sich dazu ihren eigenen Zugang erarbeiten. Den Zusammenhang zwischen Faschismus und Krieg, zwischen Friedensbewegung und Antifaschismus, gilt es dabei immer neu zu thematisieren.
V.
Jeder Krieg beginnt mit einer Lüge. Der „Überfall auf den Sender Gleiwitz“ wurde nach meinem Empfinden im Hinblick auf seine Dreistigkeit sechzig Jahre später noch übertroffen von dem Vergleich der Zustände in Jugoslawien mit denen in Auschwitz.
Dass der Mann, der aus den Bergen Afghanistans die Zerstörung des World Trade Center gesteuert haben soll, nach dem Überfall auf dieses Land von den vereinten Militärs und Geheimdiensten der USA und ihrer Verbündeten niemals gefasst wurde, und dass die angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins niemals gefunden wurden, als der Irak überfallen und in ein Chaos gestürzt worden war, das ist bekannt.
VI.
Die Friedensbewegung hat keine Waffen. Sie kann nur den Kampf um die Hirne der Menschen gewinnen, indem sie aufklärt und dabei die Zusammenhänge sauber und nachvollziehbar aufdeckt. Die Propagandafabriken der Kriegstreiber waren und sind mächtig, zu viele verdienen am Krieg und seiner Vorbereitung. Ihr habt euch heute trotzdem am Antikriegstag hier versammelt, dafür danke ich euch.
Willi Bleicher konnte nicht dabei sein, als am 19. April 1945 in Buchenwald die 21.000 überlebenden Häftlinge aus vielen Nationen ein letztes Mal auf dem Appellplatz antraten und bei einer Trauerkundgebung den „Schwur von Buchenwald“ ablegten. Der Text liegt hier aus. Sie schworen „vor aller Welt … an dieser Stätte des faschistischen Grauens:
Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige
vor den Richtern der Völker steht!
Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.
Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“
Das kann auch heute unsere Losung sein.