Die Elite fickt unter sich

Wenn am Montag um halb eins die Kette zum Darkroom entfernt wird, stürmen alsbald Dutzende Männer die dunklen Gefilde von Tom’s Bar in der Motzstraße in Berlin-Schöneberg. Es gibt zwei Getränke zum Preis von einem, wer zum Fremdficken Mut braucht, der säuft ihn sich an. Alles kann, nichts muss, vieles ist möglich, der Ausgang ungewiss, aber eines ist sicher: Irgendwann im Laufe so einer schwitzigen Nacht, wenn man Genitalien nicht mehr von anderen Extremitäten unterscheiden kann, weil man kaum etwas sieht, aber viel riecht und schmeckt und hört, wird sie aus den Lautsprechern dröhnen: Die unangefochtene Königin der Schwulenmusik gehört zu jedem Blowjob dazu – Stefani Joanne Angelina Germanotta alias Lady Gaga.
Ein ganzes Stück weiter südöstlich, in der Rollbergstraße in Berlin-Neukölln, steht die größte Schwulendisco der Hauptstadt, das SchwuZ. Mitten im Gentrifizierungskiez Nummer eins, zwischen Falafel mit Erdnusssoße und Süßkartoffelpommes mit Avocado-Dip, geht es harmloser zu. Das Publikum ist jünger, schicker, zahlungskräftiger und erst am Anfang der Verzweiflung. Für Knaben, die noch vom Jungen auf dem weißen Pferd träumen, haben die Betreiber »Gaga rah rah ah-ah-ah!« erfunden, beim Lady-Gaga-Tribute-Abend darf zu sämtlichen Hits seit ihrem Durchbruch 2008 abgewackelt werden. Dagegen einzuwenden hätten höchstens die Anhänger von Madonna etwas, es handelt sich hierbei um strenge Glaubensfragen. Damit der Haussegen gerade hängt, findet sich zum Glück auch »Madonnamania« auf dem Veranstaltungskalender. Gloria Gaynor, Donna Summer oder gar deutsche Legenden wie Marianne Rosenberg und Vicky Leandros gelten mittlerweile als Nischengeschmack.
Interessant an der Marktpositionierung von Lady Gaga ist ihre eindeutig für das schwule Publikum produzierte Musik und Message. Auf ihrem neusten Werk, erschienen am vergangenen Freitag, findet sich der permanente Bezug auf Lebenswelten Homosexueller in Form und Inhalt. »Chromatica« klingt durchgängig wie unerträglicher Discohouse der Spätachtziger, die Frequenzen sind bis zum Übersteuern auf Loudness getrimmt, die Refrains bis zu zehn Dezibel lauter als die Strophen. Textlich bleibt die Perspektive der Hörerschaft ebenso genau im Fokus. Es geht um den Dancefloor, um Einsamkeit und vor allem ums stetige symptomatische Trotzen gegenüber verlorenen Lieben oder der eigenen Depression. Frei sein, selbstbewusst sein, dem Selbsthass widerstehen und losgelöst tanzen, abgeschleppt werden, für einen Abend glücklich sein. Auf Lied 14 kommt Elton John dazu, »Als ich jung war, fühlte ich mich unsterblich, lebte nur für die Nächte!« bestätigt der mittlerweile monogam lebende Hedonismusveteran.
Nun kann man sich über diese Konventionen und ihre unverhohlen lukrative Verwertungslogik schlicht lustig machen, ohne die dahintersteckende Tragödie zu erkennen. Nicht der Schwule ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt, und seine Perspektive hat sich im digitalen Zeitalter nicht verbessert. Im Gegenteil – Figuren wie die omnipräsente Lady Gaga sind der letzte gemeinsame Nenner einer Szene, die abseits der Gier nach Sex keine Solidarität mehr kennt. Eherecht und Antidiskriminierungsgesetz haben sie eingelullt, die Anonymität des Internets hat sie faul gemacht. Grindr, eine quasi monopolistische Dating-App, hat die Gay-Bars weitestgehend ersetzt, vor allem in der Provinz haben junge Männer keine Gelegenheit mehr, sich offline kennenzulernen. Im bayerischen Regensburg beispielsweise schaffte man voriges Jahr den traditionellen Gay-Day in der örtlichen Diskothek ab, während der Betreiber der letzten Schwulenbar sein Geschäftsmodell auf Hetero-Eckkneipe wechselte; im Schwulenverein sitzen Rentner und stopfen Zigaretten.
Online ist es bequem, es gibt keine Zufälligkeiten mehr, keine notgeilen Alten, keine Hässlichen und Lauten. Zu Hause schwul sein heißt, in neoliberalen Empowermentfloskeln zu versinken, das I-Phone vom schwulen Apple-Boss Tim Cook zu kaufen und ein möglichst gutes Selfie für die Partnerbörse zu schießen. Ständiger Selbstinszenierungszwang fördert Narzissmus, Narzissmus macht einsam und unglücklich. Erste psychiatrische Studien über Grindr vergleichen das Suchtpotential der App mit dem von Heroin oder Kokain. Laut einer Umfrage mit 200.000 Teilnehmern fühlen sich 77 Prozent der Benutzer nach der Anwendung unglücklich. Trotzdem versinken vor allem Schwule mit höherem Bildungsgrad lieber in endlosen Wichsorgien im heimischen Bett, als nach draußen zu gehen und sich zu positionieren. Sie haben es verlernt, Lady Gaga als Symptom ihrer perversen Situation zu begreifen, überlassen die Dancefloors den »Dummen«, während sie selbst eigenbröteln und ganz Kapitalist sein wollen. Die Elite fickt unter sich, nach der Rasterfahndung nach Gewicht, Haarfarbe, Alter und Rasse bleiben nur Evolutionsgewinner übrig. Schade, dass dabei nie Kinder rauskommen.
„Abgeschrieben aus JungeWelt
Autor: Maximilian Schäffer
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